Dabei sein ist alles! Das ist das Motto bei den Olympischen Spielen. Und so wie die Teilnahme bei der Olympiade für einen Sportler das größte Ziel ist, so ist dies die Mille Miglia für den Oldtimerenthusiasten. 1.000 Meilen, also 1.600 Kilometer, auf den schönsten Straßen Italiens, was kann es Schöneres geben? Traditionsgemäß startet die „Mille“ in Brescia und führt auf ausgewählten Strecken durch malerische Städte und Dörfer bis zum Wendepunkt in Rom. Von dort aus geht es wieder zurück nach Brescia.
Die ursprüngliche Mille Miglia fand von 1927 bis 1957 statt und war eines der weltweit bedeutendsten Langstrecken-Rennen der Welt. Dabei sein ist alles? Keineswegs, denn wie auch im alten Olympia, zählte hier nur der Sieg. In die ewigen Geschichtsbücher des Rennsports ging die unglaubliche Fahrt von Stirling Moss mit seinem Beifahrer Denis Jenkinson ein, der 1955 für die 1.000 Meilen mit seinem Mercedes 300 SLR nur 10 Stunden, 7 Minuten und 48 Sekunden benötigte. Einen Durchschnitt von fast 160 Stundenkilometern auf italienischen Landstraßen der 1950er-Jahre, unglaublich! Ein Highlight der diesjährigen Mille Miglia war, dass Stirling Moss, heute 85 Jahre alt, genau 60 Jahre nach seinem historischen Sieg, mit genau dem Auto von damals die Strecke noch einmal unter die Räder nahm. Schneller als der Brite damals war übrigens nur einer: Im Jahr 1940 siegte Fritz Huschke von Hanstein mit Copilot Walter Bäumer im BMW 328 Touring Coupé in 8 Stunden, 54 Minuten und 46 Sekunden. Allerdings war die Strecke aufgrund des damals näher rückenden Krieges auf ein mehrmals zu umrundendes Dreieck von geraden Straßen zwischen Brescia, Cremona und Mantua verkürzt. Mit eben jenem BMW 328 Touring Coupé, dem Siegerfahrzeug von 1940, gelang es im Jahr 2010 – genau zum 70-jährigen Jubiläum – Giuliano Cané, mit seiner Beifahrerin Lucia Galliani den Gesamtsieg bei der Neuauflage des Klassikers erneut einzufahren. Ein solches Double hat bisher sonst noch niemand geschafft.
Die Neuauflage der Mille Miglia hatte der Automobilclub von Brescia im Jahr 1977 ins Leben gerufen. Teilnahmeberechtigt sind nur Fahrzeuge, die bei der originalen Mille mitgefahren sind oder zumindest hätten teilnehmen dürfen. Schnell wurde diese Veranstaltung zu einem der wichtigsten Termine im Oldtimerkalender. Zwar wurde die Teilnehmerzahl über die Jahre immer wieder erhöht, doch die Anzahl der Bewerber ist nach wie vor um ein Vielfaches höher als die der angenommenen Starter. Es ist eine Ehre, bei der Mille Miglia dabei sein zu dürfen. Auch heute noch treten etliche Fahrer aber nicht nur an, um dabei zu sein, sondern um zu gewinnen. Dabei handelt es sich bei der heutigen Mille Miglia nicht mehr um ein Rennen, bei dem es um Höchstgeschwindigkeit geht. Vielmehr ist die Mille jetzt ein Gleichmäßigkeitsrennen. Die Geschwindigkeit muss exakt eingehalten werden, aufs Hundertstel genau sind die Ziellinien zu treffen. Es gibt Dutzende von Zeitkontrollen an jedem der vier Tage. Wer es ernst meint mit dem Sieg, der hat fast keine Zeit für die wunderschöne Landschaft. Und wenn man das richtige Timing für das Überfahren der Ziellinie nicht hinbekommt? Dann ist Dabeisein eben alles!
Die Route wird jedes Jahr ein wenig verändert, inzwischen dauert die Veranstaltung vier Tage und auf der 2015er-Mille hatte sie sogar rund 100 Kilometer mehr – gestört hat das wohl kaum einen der Teilnehmer.
Beeindruckend: Über 450 Fahrzeuge aus den Baujahren zwischen 1925 und 1957 starten am 14. Mai 2015, um den Olymp der Veteranen zu bezwingen. Von Brescia aus geht es am frühen Nachmittag des ersten Tages los. Es herrscht Volksfeststimmung, wenn die Fahrer durch die Altstadt von Brescia donnern. Dann geht es raus auf die Landstraße Richtung Gardasee, dort einmal die einzigartige Landzunge von Sirmione rauf und wieder runter – ein idealer Platz für die Zuschauer, denn so kommen alle Autos gleich zweimal vorbei. Die nächste Etappe ist Verona, vorbei an der weltbekannten Arena di Verona. Durch die flache Po-Ebene geht’s weiter über Ferrara und Ravenna. Der Tag neigt sich der Dämmerung entgegen, die Mille läuft. Zügige Etappen auf der Landstraße wechseln sich mit Ortsdurchfahrten ab. Dabei kann es auch schon mal vorkommen, dass die Fahrer Päckchen mit lokalen Spezialitäten gereicht bekommen.
Erst nach 22.00 Uhr kommen die ersten Autos am Tagesetappenziel in Rimini an. Hier herrscht heute Trubel bis in die späte Nacht. Und so mancher Neuling mag sich hier noch denken, dass das ja ein Kinderspiel gewesen sei und es die nächsten Tage ebenso laufen würde. Doch bereits der nächste Tag wird ihn eines Besseren belehren. Bereits ab 6.00 Uhr früh startet der Tross – wie jeden Tag – im 20-Sekunden-Abstand. Bei der Menge an Teilnehmern kann sich das dann schon mal auf zweieinhalb Stunden hinziehen – sehr zur Freude der Zuschauer. Und von denen gibt es Zigtausende im autobegeisterten Italien.
Eines von vielen Highlights auf den 1.600, Pardon, in diesem Jahr 1.700 Kilometern, ist das trutzige San Marino, eine winzige eigene Republik auf einem Felsen gelegen, rings umgeben von Italien. Der Weg dorthin ist gespickt mit anspruchsvollen Wertungsprüfungen, die teilweise sogar ineinander übergehen. Wer hier punkten will, sollte sein Fahrzeug präzise im Griff haben, und der Copilot sollte darüber hinaus exakt rechnen können. Die Route führt weiter in südliche Richtung im Hinterland der Adriaküste und dann ins Landesinnere hinein, um den Apennin zu bezwingen. Teilweise windet sich die Strecke bis jenseits der Baumgrenze, in manchen Jahren führte die Mille Miglia mitten in Italien an meterhohen Schneewänden vorbei, und das mitten im Mai.
Die ganze Strecke ist gesäumt von Fans, sich zu verfahren ist eigentlich unmöglich. Dort, wo die Menschen neben der Straße stehen, dort ist die Strecke. Selbst Schulklassen bekommen für die Zeit, wenn die Autos passieren, frei, die Kinder stehen dann an der Straße und winken – die Mille ist ein Volksfest. 1.600 Kilometer oder etwas mehr, verteilt auf vier Tage, das mag sich nach nicht besonders viel anhören, aber man ist hier auf Landstraßen unterwegs, und zwar auf den schönsten, keineswegs auf den schnellsten. Es gibt jede Menge Wertungsprüfungen, die Zeit beanspruchen, und es gibt die vielen Ortsdurchfahrten, bei denen die Fahrer sich und ihre Autos präsentieren können und den Fans huldigen dürfen. Damit werden die Tage hinter dem Steuer lang und anstrengend, aber auch ausfüllend.
Das Ziel des zweiten Tages ist die Ewige Stadt Rom. Die Zielankunft wird auch hier vor Tausenden Fans zelebriert und zieht sich bis weit nach Mitternacht hin. Erst dann beginnt die Stunde der stillen Helden der Mille Miglia im Hintergrund: Die meisten Teilnehmer haben ihre Mechaniker dabei, die erst jetzt mit ihrer Arbeit beginnen können. Wenn es gut läuft, reicht eine einfache Durchsicht, bei anderen sind langwierigere Eingriffe notwendig, damit das schwer beanspruchte historische Material am nächsten Tag die kommenden Etappen wieder unter die Räder nehmen kann. Dann bleibt nichts als Schrauben bis zum Morgengrauen. An den beiden Haupt-Streckentagen der Mille Miglia, am Freitag und am Samstag, verbringen die Fahrer bis zu 16 Stunden hinter dem Steuer und ihre Beifahrer hinter dem Roadbook. Für die drei Übernachtungen auf der Strecke bleiben da nicht viel mehr als insgesamt elf oder zwölf Stunden Zeit für den Erholungsschlaf übrig. Doch der Schlaf der Fahrer findet, auch wenn er nicht besonders lang ist, zumindest zu üblichen Zeiten statt. Die Kernarbeitszeit der meisten Mechaniker beginnt erst nach Zielankunft der Teilnehmer und endet, wenn das Auto fit für den nächsten Tag ist.
Am Samstag startet das erste Auto um 6.00 Uhr morgens. In diesem Jahr führt die Tour von Rom über Viterbo und Radicofani in die sanfte Hügellandschaft der Toscana. Eines von vielen Highlights ist die Stadtdurchfahrung von Siena, die Zuschauer stehen mitten auf der berühmten Piazza del Campo Spalier und heißen die Mille in ihrer Mitte willkommen. Weiter geht es durch die Toskana über Pisa und das kleine malerische Städtchen Lucca nach Parma in der Emilia-Romagna, immer begleitet von der Polizeimotorradstaffel der italienischen Polizei, die die komplette Mille Miglia absichert und dafür sorgt, dass die Klassiker leidlich freie Fahrt haben. Auch irgendwie Helden – nur keine stillen.
Am Sonntag führt die letzte und kürzeste Etappe über Bergamo zurück nach Brescia. Hier scheint das Tempo noch einmal anzuziehen, denn die Straßen sind hier in der Po-Ebene meist gerade, Steigungen und Gefälle gibt es kaum mehr. Es scheint, als ob alle ein wenig vom Heimweh beflügelt sind und immer etwas schneller werden – Zeitkontrollen hin oder her …
Ab Mittag wird die Ankunft mit einem riesigen Volksfest gefeiert. Und dann ist es vorbei. 1.000 Meilen – oder auch ein paar mehr – sind gefahren, die Anstrengungen sind rasch vergessen, und irgendwie ist alles dann doch viel zu schnell vergangen. Gut, dann gibt‘s noch die Siegerehrung, aber die ist für die meisten nicht so wichtig. Dabei sein ist alles, der Olymp ist bezwungen.
Doch nach der Mille ist vor der Mille, fast alle sind Wiederholungstäter. Auch die vielen Helfer, Mechaniker und Motorradpolizisten. Trotz der langen Tage und kurzen Nächte …